Vom Genogramm zur Lösung im Rahmen einer systemischen Aufstellung ist es oft ein sehr kurzer Weg, und weniger ist dabei mehr. Anliegen und Klarheit sind für mich untrennbar miteinander verbunden.
Als ich mein Telefon abhebe, höre ich am anderen Ende der Leitung eine junge Frau mit zittriger, resignierter Stimme ihre derzeitige Situation schildern. Was meine – zukünftige – Klientin beschreibt und was sie nahezu erdrückt, sind die scheinbar unlösbaren und unerklärlichen Probleme, mit denen sie sich aktuell in ihrem Beruf konfrontiert sieht. Ich stelle ihr ein paar Fragen zur Orientierung und schnell kristallisiert sich heraus, dass sie mir vertraut und zu einem Coaching-Gespräch in meine Praxis kommen wird.
Wenn es scheinbar keine Erklärung gibt, entstehen Angst und Zweifel
Die junge Frau ist in einem Gesundheitsberuf tätig und erlebt immer wieder Situationen, in denen sie sich schwach und hilflos fühlt, obwohl sie sowohl körperlich als auch geistig gesund ist und alles Nötige für ihren Beruf mehr als nur beherrscht. Diese Situation macht ihr Angst und bringt sie sehr zum Zweifeln.
Meine Klientin hat unbewusste Bilder im Kopf, welche ihre Erwartungen, Entscheidungen und Handlungen beeinflussen. Diese Bilder haben besondere Wirkung, da sie unbewusst sind und somit nicht im kritischen Bewusstsein „auf den Schirm kommen“, um geprüft zu werden. Subtil wirken diese Bilder tagtäglich vor sich hin, mit dafür umso größeren und mächtigeren Auswirkungen. Im Fall meiner Klientin scheinen die Herausforderungen unlösbar, denn sie erlebt und kennt nur die Symptome. Diese beschäftigen sie so sehr, dass für eine Erforschung der Ursachen weder Bewusstsein noch Zeit übrigbleiben.
Wenn ich als Berater die Inhalte größtenteils ausblende und mich auf die Strukturen und Dynamiken im System konzentriere, dann wird oft ganz schnell klar, wo die eigentlichen Ursachen für scheinbar unerklärliche Symptome liegen. Sind diese Ursachen erst einmal sichtbar geworden, dann erscheinen die Folgen nicht mehr unerklärlich, sondern im Gegenteil sogar logisch und offensichtlich. Solche Momente können für Klient:innen durchaus gruselig oder gespenstisch anmuten, wenn der Berater auf einem Zettel mit Quadraten, Kreisen und Strichen etwas erkennt, was das eigene Leben maßgeblich betrifft.
Damit diese auftretende Irritation nicht in Verunsicherung oder nachhaltige Skepsis umschlägt, erkläre ich an dieser Stelle meistens, was ein Genogramm ist, was darin dargestellt wird und wie ich damit arbeite. Für gewöhnlich sind Klient:innen spätestens ab diesem Moment neugierig und stellen ihrerseits konstruktive Fragen.
Die Landkarte ist nicht das Gebiet
Ein Genogramm eignet sich hervorragend zum Kartografieren und Sichtbarmachen der eigenen Familiengeschichte. Bei der Erstellung des Genogramms verzichte ich auf einen hohen Detailgrad und grafische Feinheiten und setzte stattdessen auf eine Handvoll simpler Symbole. Relevante Informationen ergänze ich dann schriftlich, wenn sie nicht aus der grafischen Darstellung ohnehin ersichtlich sind. Ein so entstehendes Genogramm ist in jeder Hinsicht ein hilfreiches Werkzeug und gibt Orientierung im gesamten Prozess – meistens zeichne ich bereits beim Erstgespräch auf meinem Notizblock ein erstes Fragment des Genogramms mit.
Es bietet Klient:innen die Möglichkeit einer ersten Visualisierung innerer Bilder, welche unbewusst wirken und sie so in ihren Handlungen, Entscheidungen und Überlegungen beeinflussen. Immer wieder kommt es vor, dass schon allein ein Genogramm Klient:innen erkennen lässt, was bisher nicht sichtbar war. Oftmals stellen sie dann die interessantesten und konstruktivsten Fragen, die man sich nur vorstellen kann. Vielfach konnten Klient:innen schon nach der ersten Sitzung Entscheidungen anders treffen und Handlungen bewusster steuern, weil das Genogramm für ein wenig mehr Klarheit hinsichtlich der Ursachen und Wirkungen gesorgt hat.
In fast allen Fällen findet zumindest ein erstes Verstehen statt. Plötzlich werden unbewusste Bilder bewusst gemacht und anhand gezielter Fragen durch wichtige Informationen ergänzt. Was bisher scheinbar die Folge von Schicksal oder Bestimmung war, wird nun zu einem Ergebnis komplexer Ursachen und Wirkungen. Viele Klient:innen erkennen erstmals, dass die Dinge nicht einfach so passieren, sondern dass es dafür nachvollziehbare Erklärungen gibt. Stellen Sie sich die Erleichterung vor, wenn man erkennt, dass man selbst etwas ändern kann und nicht hoffnungslos ausgeliefert ist.
In solchen Situationen empfehle ich meist eine systemische Aufstellung in der nächsten Sitzung, die nicht in allzu weiter Zukunft stattfinden sollte.